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Fahrt ins Blaue

Nicht alle Austauschprogramme für Schüler sind ihr Geld wert. Ein Gütesiegel könnte mehr Orientierung schaffen/  Von Marlies Uken

Eine Gastfamilie für jeden Austauschschüler zu finden fällt den Vermittlern zunehmend schwer. Deshalb landet so mancher Programmteilnehmer zunächst in einer Übergangsfamilie

Den Start seines Schuljahres an einer amerikanischen High School hatte sich Matthias Schmoll anders vorgestellt. Der 16-jährige Austauschschüler verpasste erst einmal anderthalb Monate Unterricht, da ihm die für den Austausch zuständige Organisation keine Gastfamilie vermitteln konnte. Schmoll musste zunächst in Deutschland weiter zur Schule gehen. "Am Anfang war das ja noch ganz witzig. Aber irgendwann fragt man sich: Warum finden die denn bloß keine Familie für mich? Seh ich denn so unsympathisch auf den Fotos aus?"

Schließlich klappte es mit dem Amerika-Austausch doch noch und heute möchte der Hamburger Schüler sein Jahr in Hennessy/Oklahoma auf keinen Fall missen. Mit der Arbeit seiner deutschen Austauschorganisation ist er allerdings höchst unzufrieden. Das Auswahlgespräch habe kaum länger als eine Stunde gedauert und eher "Kaffeeklatsch-Atmosphäre" gehabt, kritisiert Matthias. Seine Englischkenntnisse wurden mit einem kurzen Grammatiktest zum Ankreuzen geprüft - das war's. "Schon zwei Tage später hielt ich die Zusage in den Händen und bald auch die erste Rechnung", erinnert er sich. Eine Infoveranstaltung, die auf Amerika vorbereiten sollte, entpuppte sich als Minibastelkurs, bei dem die Schüler amerikanische Gebäude aus Papier nachbauten und das Münzsystem erklärt bekamen.Wie Matthias wollen immer mehr Jugendliche für ein Schuljahr ins Ausland. Meist nutzen sie die 11. Klasse, um zu erfahren, wie es anderswo aussieht. Beliebtestes Reiseziel sind die Vereinigten Staaten. Zwischen 10 000 und 12 000 deutsche Schüler nehmen in diesem Jahr an einem High-School-Programm in den USA teil, schätzt die Stuttgarter Verbraucherschutzorganisation Aktion Bildungsinformation e. V. (ABI). Bis zu 3000 Schüler verbringen ihr Schuljahr in Australien, Kanada, Neuseeland oder aber auch in Ländern wie Paraguay oder Lettland. Die Eltern lassen sich dabei die Auslandserfahrung ihres Nachwuchses durchaus etwas kosten - so ein Aufenthalt verschlingt leicht mehr als 10 000 Mark. Doch bei der Auswahl einer Organisation haben sie es nicht leicht.

Inzwischen gibt es auf deutscher Seite mehr als 60 Veranstalter, davon 19 gemeinnützige, die mit einem US-Partner den Austausch organisieren. "Das ist ein Markt mit riesigen Umsätzen geworden", sagt Barbara Engler von der Stuttgarter Verbraucherschutzorganisation. Und auf diesem Markt mischen auch Anbieter mit, denen es nur um die schnelle Mark geht. Da werden die Schüler mit High-School-Diploma gelockt oder dem US-Führerschein, einem wertlosen Dokument, das die Schüler in den USA aus Versicherungsgründen in der Regel nicht benutzen dürfen und das in Deutschland nichts gilt.

Vorbereitungstreffen haben oft den Charakter einer Werbeparty

"Die Beschwerden bei den High-School-Programmen nehmen zu", beobachtet Engler. Die Mängelliste beginnt bei der Auswahl der Bewerber. Manche Organisation entscheidet allein aufgrund eines Telefongesprächs, ob ein Schüler fit fürs Ausland ist. Weiter geht es mit Vorbereitungstreffen, die mehr den Charakter einer Werbeparty haben und höchstens Fragen zur Versicherung klären.

Zunehmend beobachten die Verbraucherschützer auch die Praxis, Schüler loszuschicken, ohne dass die Gastfamilie feststeht. Mit der wachsenden Beliebtheit von Austauschprogrammen ist auch die Konkurrenz der Anbieter um potenzielle Gastfamilien härter geworden. Viele Organisationen behelfen sich deshalb mit einer Übergangsfamilie, bei der der Austauschschüler vorübergehend wohnen kann. Sie bauen darauf, dass die "welcome family" den Gast für das ganze Jahr behält oder dass der Schüler auf eigene Faust eine neue Bleibe findet. "Aber es kann nicht sein, dass die Unterkunftsbesorgung immer mehr auf die Schultern der Schüler abgewälzt wird", klagt Barbara Engler.

Sie fordert verbindliche Regelungen für den Schüleraustausch, die vom Staat vorgegeben werden müssten - ein Ansinnen, das bei Wolfgang Börnsen auf offene Ohren stößt. Der CDU-Bundestagsabgeordnete ist Vorsitzender der Kommission des Ältestenrates für Internationale Austauschprogramme und verantwortet das jährliche Parlamentarische Patenschaftsprogramm, das Stipendien für ein High-School-Jahr vergibt. "So ein Schüleraustausch ist eine hervorragende Sache", sagt Börnsen, "aber den Familien muss garantiert werden, dass die Organisationen qualifiziert arbeiten." Auf seine Initiative hin soll jetzt im Berliner Justiz- und Innenministerium geprüft werden, wie verbindliche Regelungen aussehen könnten.

Börnsen wäre es am liebsten, wenn sich alle Anbieter auf freiwilliger Basis einigten, ein Gütesiegel zu vergeben, das Mindeststandards für die Arbeit der Organisationen gewährleistet. "Dazu gehört etwa, dass die Adresse der Gastfamilie spätestens drei Wochen vor Abreisetermin feststehen muss", erklärt Börnsen. Auch ein Jugendaustauschschutzgesetz, das derzeit in der Diskussion ist, könnte Mindeststandards garantieren. Während sich nämlich jeder Pauschalurlauber vor Gericht auf das Europäische Reiserecht berufen kann, gilt das für Austauschschüler nicht. Jugendreisen und "pädagogisch orientierte Reisen" fallen nicht unter die Pauschalreiserichtlinie der Europäischen Gemeinschaft von 1990, wie der Europäische Gerichtshof im Februar feststellte. Das bedeutet etwa, dass der Veranstalter im Vertrag schlicht von "Vermittlung einer Unterkunft" sprechen darf. "Das kann dann auch ein Bett bei einer Familie sein, die unter dem Existenzminimum lebt", kritisiert Barbara Engler.

Wie weit gesetzliche Regelungen gehen sollten, darüber gibt es jedoch noch keine Einigkeit. Schließlich hängt Erfolg oder Misserfolg eines Schüleraustausches stark von zwischenmenschlichen Beziehungen ab - "und die sind nicht einklagbar", gibt der Ratgeberautor Christian Gundlach zu bedenken. Solange es also weder Gütesiegel noch Gesetz gibt, bleibt den Eltern nichts anderes übrig als der Griff zur Ratgeberliteratur. Die Verbraucherschutzorganisation ABI und Branchenkenner Gundlach haben in ihren Büchern Kriterien aufgestellt, anhand deren man überprüfen kann, ob ein Anbieter seriös arbeitet. Dazu gehören zum Beispiel folgende Forderungen: Die Organisation sollte

- im Informationsmaterial die persönlichen Voraussetzungen für eine Bewerbung klar formulieren, statt mit US-Führerschein und High-School-Diplom zu werben

- die Bewerber zu einem persönlichen Auswahlgespräch einladen

- ein mehrtägiges Vorbereitungsseminar anbieten, das Probleme im Familien- und Schulalltag wie die Landes- und Kulturgeschichte behandelt

- Verträge nach deutschem Recht und unabhängig von der schriftlichen Bewerbung abschließen

- einen Ansprechpartner im Gastland nennen, der regelmäßig Kontakt zu den Schülern hält

- ein Nachbereitungstreffen veranstalten.

Eine hundertprozentige Garantie für einen erfolgreichen Auslandsaufenthalt können zwar auch solche Kriterien nicht liefern. Doch wer sich nach ihnen richtet, läuft bedeutend weniger Gefahr, in der Ferne enttäuscht zu werden.

Hilfreiche Bücher:

Aktion Bildungsinformation e. V.: Schuljahresaufenthalte in den USA; Stuttgart 1999; 25 DM.
Christian Gundlach: Ein Schuljahr in den USA, 68 Organisationen auf dem Prüfstand; Recherchen-Verlag Schill, Hamburg 1999; 26,80 DM.
Max Rauner: Als Gastschüler in den USA; Reise-Know-How-Verlag, Hohenthann; 26,80


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Links zu diesem Thema:

United States Information Agency

The Council on Standards for International Educational Travel

Das Parlamentarische Patenschafts- Programm

Ein Schuljahr in den USA

Gastschüler in den USA