Projektwoche - Die Magie der Bücher

Weinend schlug Lilli die Tür hinter sich zu. Zahnarzt. Fünfjährige Mädchen sollten nicht gezwungen werden, sich so einer Folter zu stellen, schoss es ihr durch den Kopf. Mit verschränkten Armen und tränenüberströmtem Gesicht lief sie mit schnellen Schritten durch ihr schwach beleuchtetes Zimmer und ließ sich schluchzend auf ihr Bett fallen. Wie oft hatte es diese Diskussionen schon gegeben. Lilli hatte nie den Sinn eines Zahnarztes verstanden. Ihre Zähne waren doch sauber. Warum musste ihre Mutter sie so quälen? Verstand sie denn gar nichts? Ein weiterer Schluchzer schüttelte Lilli, während draußen der Regen gegen die Fenster prasselte. Weit unten hörte sie eine Tür knallen. Ihre Mutter war also wieder weg gefahren. Lilli wusste nicht, wohin ihre Mutter so oft verschwand. Aber es war ihr auch egal, am besten sie käme erst gar nicht wieder.
Noch lange lag Lilli auf ihrem Bett und als die Abendsonne schon ihre Strahlen in ihr Zimmer warf, hatte sie sich immer noch nicht beruhigt. Nachdem ihre Tränen endlich getrocknet waren, hatte sie schon fast Raum und Zeit vergessen. Langsam drehte sie sich auf ihren kleinen Rücken und sah sich in ihrem Zimmer um. Neben ihr lag ein großer Stoffbär, den sie einmal von ihrem Vater zum Geburtstag bekommen hatte. Ihr Vater war nie da. Er war auf Reisen gegangen, als Lilli geboren wurde, hatte ihr ihre Mutter immer erzählt. Einmal im Jahr bekam sie ein Geschenk von ihm. Doch ihren größten Wunsch, ihrem Vater einmal in die Augen zu sehen, hatte er ihr nie erfüllt. Die tröstenden schwarzen Augen des Bären blitzten im Mondschein zu ihr herüber und sie drückte sich dankbar an ihn. Eine Weile verging, bis Lilli endlich den Endschluss fasste, das einzige zu tun, was sie in einem Moment wie diesem aufmuntern konnte. Langsam kroch sie aus ihrem Bett und lief mit trippelnden Schritten zu einem ihrer überfüllten Bücherregale hinüber.
Obwohl Lilli erst fünf war, las sie schon mehr als so manch ein Erwachsener. Sie las auch mehr als ihre Mutter, obwohl das wahrscheinlich nicht schwer war, denn sie konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals mit einem Buch in der Hand gesehen zu haben. Nicht so Lilli. Einen Tag, an dem sie nicht las, gab es nicht. Schon seit sie das erste Mal mit ihrem winzig kleinen Finger über die Bilder eines Kinderbuchs gestrichen war, hatte sie sich in die bedruckten Seiten verliebt. Was gab es an so einem Tag also Besseres, als sich in den Tiefen eines Buches zu verkriechen. Ganz tief hinein wollte Lilli zwischen die Seiten schlüpfen, am besten so weit, dass ihre Mutter sie niemals finden würde. Fragend stand Lilli vor ihren Büchern. Was konnte den Schmerz vertreiben, den sie gerade spürte? Die Angst vor dem morgigen Tag? Die Enttäuschung gegenüber ihrer Mutter? Aladin und die vierzig Räuber vielleicht. Wer konnte ihr schon etwas anhaben, wenn vierzig Räuber sie begleiteten? Oder ihr Lieblingsbuch, die Feen von Aves? Die Feen in diesem Buch waren anders. Stark, verständnisvoll und wunderschön.
Nach kurzer Zeit war ihre Entscheidung gefallen. Erschöpft ließ sich Lilli mit dem Buch in ihren kleinen Sitzsack fallen. Ehrfürchtig wie jedes Mal, schlug sie den Umschlag zu Seite. Ein paar weiße Seiten erwarteten sie. Auch diese blätterte sie um, wie einen Vorhang, den man zur Seite zog. Die Vorstellung konnte beginnen. Es dauerte nicht lange, da war Lilli kopfüber in die Geschichte gestürzt. Sie kämpfte tapfer mit den Feen an ihrer Seite, litt mit ihnen, wenn etwas Schlimmes passierte, und kam sich auf einmal gar nicht mehr so hilflos vor, als sie las, wie ihre Lieblingsfee alleine gegen einen Bergtroll kämpfen musste. Was war schon ein Zahnarzt gegen einen Troll?  
Die Nacht war längst hereingebrochen und der Mond schickte seine Strahlen in Lillis kleines Zimmer, da las sie immer noch. Ihre Mutter schien noch nicht wieder da zu sein, aber das kümmerte Lilli nicht mehr. Gerade hatte sie die wichtigste Schlacht der Feen an deren Seite gekämpft und den Zahnarzt, ihre Mutter und sogar, wo sie sich in Wirklichkeit gerade befand, vollkommen vergessen. Es musste schon nach Mitternacht sein, als sie die letzte Seite ihres Buches zuschlug. Der Vorhang fiel zu. Die Vorstellung war beendet.
Langsam löste Lilli ihren Blick und sah sich in ihrem Zimmer um. Es war von gleißendem Mondlicht durchströmt, welches, bis auf eine kleine Leselampe neben Lillis Sitzsack, die einzige Lichtquelle in ihrem Zimmer war. Das Licht erinnerte sie an den Wald der Feen in ihrem Buch und langsam schloss sie die Augen, um sich noch einmal vorzustellen, sie wäre dort. An einem Ort ohne Sorgen. Ohne Ängste. Ohne Zahnärzte.
Doch plötzlich schlug sie die Augen auf. War das etwa ein Flügelschlag gewesen? Sie war sich sicher, einen gehört zu haben. Angestrengt sah sie zu der Blume auf ihrer Kommode und versuchte, die kleine Fee auszumachen, die sie dort vermutete. Das Mondlicht spiegelte sich in der Vase und plötzlich war sich Lilli sicher, die Fee gesehen zu haben. Schnell drehte sie den Kopf und machte auf ihrem Bett einen Kobold aus. Dort hinter der unordentlichen Decke. Gerade hatte er seinen Kopf herausgestreckt, da war sich Lilli sicher. Doch was wollten die Geschöpfe hier? Warum waren sie aus ihrem wundervollen Buch gekommen, in eine Welt, die so grau, einsam und verlassen war? Warum waren sie ausgerechnet hier in Lillis Zimmer gekommen? An dem einen Tag, an dem es ihr so schlecht ging? Die Fragen hallten noch lange in Lillis Kopf nach, als sie schon halb eingeschlafen war.
In ihrem Sitzsack liegend, das Buch als Kissen unter ihrem Kopf, hatte sie das Gefühl, es würde ihr nachts seine Geschichten ins Ohr flüstern. So war es immer gewesen und so würde es immer sein, egal wie hart der Einband war. Leise hörte sie, wie sich die Fee auf ihre Schulter setzte und flüsterte: „Lilli hab keine Angst, wir sind immer bei dir.“
Sie hörte auch den Kobold, wie er sich beschützend vor ihren Füßen zusammenrollte und leise anfing zu grummeln. Und wenn sie genau hinhörte, konnte sie noch alle anderen Geschöpfe und wundersamen Wesen aus ihrem Lieblingsbuch hören, wie sie ihr beruhigende Worte ins Ohr flüsterten und sich neben sie gesellten. Und als Lilli nun an den morgigen Tag dachte, musste sie kichern, als sie sich ausmalte, wie die Fee mit ihren Zauberkräften den schrecklichen Bohrer verschwinden lassen würde, der Kobold bereit wäre, dem Zahnarzt entgegenzuspringen, wenn er ihr weh tun würde, und die anderen wundersamen Wesen im Wartezimmer nur darauf warteten, sie zu beschützen.

Ronja Rademacher
Projekt "Geschichten schreiben", Projektwoche 2014